Die Weihnachtsgeschichte 2016

Matthias Biskupek
Die Weihnachtsgeschichte 2016
Gedruckt in den Thüringer Zeitungen der Funke-Mediengruppe

Irgendwann im Leben sollte man etwas zurückgeben. All das, was einst an Liebe und Zinsen hereinkam, muss weitergereicht werden. Das Letzte Hemd braucht keine Flaschen. Solche Gedanken mache ich mir beim Studieren schwarzumrandeter Anzeigen in der Tageszeitung. Ich gehöre noch zu jenen Fossilen, die Papierblätter lesen. Deshalb fiel mir die Meldung auf, dass auch dieses Jahr wieder Weihnachtsmänner gesucht würden. Bin ich nicht eigentlich ein typischer Weihnachtsmann mit meinen Gedanken vom letzten Hemd? Am Ende unserer Straße eröffnete unlängst eine Agentur: „The Modern Sound“. Darunter klein: „Vermittlungsstelle für zeitgemäße Event-Angebote“. Daneben klebte ein Zettel: „Weihnachtsmanndarsteller gesucht“. Dazu eine Internet-Adresse.
Die hätte ich nutzen sollen, aber ich bin altmodisch, ging also stracks in die Agentur hinein. Die Event-Agentin, blutjung, bildschön und mich nicht beachtend, weil sie auf einem Tablett wischte und klopfte, flötete nach einer Weile: „Nutzen Sie unsere Online-Portale.“
„Ich bin aber nun schon mal da. Ich komme als Weihnachtsmann-Darsteller.“
„Ach, das? Das hat unser Praktikant hingehängt. Ein hoffnungslos romantischer Bufdie. Weihnachtsmänner sind natürlich out. Over and out. Wir suchen mobile Event-Bürger, kunden- und zielorientiert, die fresh & fun bieten, auf Wunsch natürlich auch Frohsinn, Bescherung und Heiterkeit; das kann dann auch mal ein Weihnachtsmann nach guter alter Tradition sein.“
„So was würde ich machen, weil ich doch, wegen der Liebe und den Zinsen, etwas zurückgeben möchte …“
„Nicht zurückgeben – austeilen! Ich habe noch vier unbearbeitete Fälle: vier Adressen, vier Uhrzeiten, vier schon bezahlte Eventkisten. Aber unsere Kunden sind sehr verschieden. Ich schreibe Ihnen Bemerkungen dahinter. Für Nr. 2 sind Weißbart und Rotkostüm passend. Bei den anderen lassen Sie sich was einfallen. Und, bitte, loggen Sie sich nach der Ausführung dann ordnungsgemäß aus.“
Ich wollte sagen, dass ich mich doch noch gar nicht eingeloggt hätte, doch es wischte und klopfte bereits wieder. Aus jener Vergangenheit, als es bei mir noch Liebe und Zinsen gab, besitze ich ein Weihnachtsmannkostüm. Gestiefelt und gegürtet machte ich mich auf den Weg zur ersten Adresse. Leider war die Bemerkung dahinter unleserlich.
Die Location – ich will zumindest in meinen Formulierungen bildschön und blutjung sein – lag in einem gepflegten Garten. Am Eingang: „Hier leben, lieben und lachen Urte, Martin, Lyra und Lovis“.
Wahrscheinlich war es Urte, die mich empfing. Sie zischte: „Wir wollten doch eine Weihnachtsfrau! Sind Sie wenigsten schwul?“ Ich stotterte: „Eher lesbisch …“ Den Event-Karton traf ein missbilligender Blick: „Der ist nicht recyclebar. Die Umverpackung müssen Sie wieder mitnehmen.“
Im Wohnzimmer hockten zwei Wesen, vermutlich Lyra und Lovis, und gähnten. Ich brummte mein „Von drauß’ vom Walde komm ich her…“ Martin sagte: „Die Wälder sind sauer und wir auch, wenn Sie uns einreden wollen, die Welt sei in Ordnung.“
Unverdrossen wandte ich mich an die beiden gähnenden Wesen: „Seid Ihr auch immer artig gewesen?“ Urte zischte: „Wer heutzutage artig ist, stützt das herrschende System!“ Lyra zog an meinem Umhängebart, der sich ein wenig vom Kinn löste: „Bist du transgender?“ Lovis starrte unverwandt auf meine schwarzen Stiefel: „Hast du Bazillen?“ Martin nahm meine sorgsam zu dekorativen Zwecken ausgesuchte Rute, zerknackte sie schmerzhaft auf meinem Rücken und beschied: „Wir sind ein gewaltfreier Haushalt!“ Urte verschränkte die Arme: „Muss ich Sie erst darauf hinweisen, dass man die Schuhe auszieht? Was sollen unsere Nachbarn von uns denken? Das sind Moslems!“
Ich kippte den Eventinhalt auf den Boden, schnappte die Umverpackung und verließ die Location fluchtartig. Ich hörte noch wie Lyra sagte: „Ist das wirklich vegan?“ Urte zischte: „Ruf doch gleich mal unsere Anwältin an!“
Beim zweiten Termin, erinnerte ich mich, sollte das traditionelle Weihnachtskostüm von Vorteil sein. Wieder war die Bemerkung unleserlich. Im Fenster Schwippbögen und Tannenzweige mit silbernen Kugeln. Ich atmete auf. Der Mann, der mir öffnete, schaute auf die Uhr und fragte: „Und wann kommt das Christkind?“ „Ich bin das doch, quasi stellvertretend …“
„Weihnachtsmann und Christkind waren ausgemacht. Hat man Sie nicht informiert?“
„Es hieß nur, dass ich das traditionelle Weihnachtsmannkostüm …“
„Was soll denn das für eine Tradition sein? Weihnachten ist ein christliches Fest. Nun gut, kommen Sie mit etwas Gepolter herein.“
Ich klopfte, brummte, trampelte und stellte den mit einem Sack umhüllten Event-Karton ab. Am Tisch saß die Jungfrau Maria mit dem kleinen Jesus auf dem Schoß. Die Jungfrau trug ein härenes Gewand und war ansonsten naturbelassen. Das dreijährige Jesulein quiekte, als es mich sah: „Komm Herr Jesus, sei unser Gast und sage was Du uns bescheret hast!“
Der Mann beschied: „Zunächst singen wir gemeinsam aus dem Evangelischen Gesangbuch: ‚Wer weiß wie nahe mir mein Ende’“.
„Wollen wir nicht lieber ’Kommet ihr Hirten’ …?“
„Der Weihnachtsmann ist schon alt“, meinte der Mann zum Jesulein, „deswegen muss er ab und zu ins Buch gucken“. Er zeigte mir die entsprechende Stelle und wir sangen mehrstimmig „Wer weiß wie nahe mir mein Ende.“ Meine Melodie unterschied sich sehr von jener der Heiligen Familie, und ich war sehr zufrieden als nach vielen Strophen das glückliche Ende nahte.
„Lasset uns beten“, sprach der väterliche Hirte, „denn wir verkündigen uns große Freude“. Mein stilles Gebet bis Fuffzehn war quasi unleserlich, weil ich mich strikt an die Agentur-Anweisung hielt.
Die Übergabe des Eventkartons aus dem Sack war dagegen recht einfach und wurde von der Jungfrau Maria mit dem Psalm Nr. 36 quittiert, während das Jesulein fein sprach, dass es an die süße Mutterbrust wolle. Ich flüchtete, bevor die süße Überraschung ausgepackt werden würde.
„Bei uns herrschen Julklappbräuche, die Wintersonnenwende ist uns heilig genug“, hörte ich an der dritten Adresse, „also lassen Sie den christlichen Firlefanz. Wo haben Sie die Rute?“
„Die ist mir in Ausübung des Dienstes abhanden gekommen“, sagte ich wahrheitsgemäß. „Wenigstens wissen Sie sich auszudrücken“ meinte der Vater der fünfköpfigen Familie: „Das ist Runhild, meine Gattin, das sind Wolfgang, Wilfried und Wieland, unsere Söhne. – Und nun wollen wir den Herrn Weihnachtsmann mal richtig empfangen“ schmetterte der Vater und die Familie fiel ein: „Kamerad, Herr Weihnachtsmann / Komm mit deinen Gaben. / Trommel, Degen und Gewehr / Fahn und Säbel und noch mehr, / Ja ein ganzes Kriegesheer, / Wolln wir gerne haben!“
„Lied aus! Abmarsch ins Bescherungszimmer.“
Dort stand ein großer Tannenbaum, mit schwarzen Wunderkerzen, weißen Schleifen und roten Kugeln geschmückt. „Sie haben aber einen schönen Christbaum“, murmelte ich anerkennend. „Das ist ein Julbaum, das sehen sie am Kreuz. Das ist etwas anders gestaltet, als das übliche. Und nun frisch und frei heraus mit den Gaben!“
Es waren in der Tat Dinge, die ich schon vom Begrüßungslied kannte, die aus dem Eventkarton herauspurzelten. Die Agentur hatte offensichtlich den einschlägigen Versandhandel aus Murnau beauftragt. Mir schien, dass jene Agentin doch mehr konnte, als nur bildschön und blutjung zu sein, auch wenn sie unleserlich schrieb. Meinem letzten Auftrag hatte sie leserlich hinzugefügt: DDR.
Aha! Mit geflügelten Jahresendfiguren, Schokoladenhohlkörpern und Plansilvester kenne ich mich aus. Dachte ich.
Es war kein Plattenbau, sondern ein Einfamilienhaus, an dem ich klingelte. Eine adrett frisierte Dame kam heraus, musterte mich und rief: „Der Kollege von der Volkssolidarität ist da. Soller reinkommen?“
„Ja Muddi, aber er ist von einer Agentur“, kam von drinnen eine Frauenstimme: „Soll sich die Schuhe ordentlich abputzen.“ Die Frauenstimme stellte sich als Dame des Hauses namens Mandy vor, die adrette Dame war die Oma. Die Familie bestand zudem aus Vaadi, zwo Rangen, der kleenen Alina und dem Onkel.
Alle aßen Kartoffelsalat mit Würstchen. Der Kollege Weihnachtsmann sollte ruhig mit zulangen.
„Solche leckeren Würstchen gabs früher nie“, meldete der Onkel. Oma beschied: „Die waren frieher viel besser.“ Vaadi resümierte: „Es war nich alles schlecht, aber unsre Würstchen waren nich schlecht, oder?“ Ich lauschte dem verwickelten Sinn der Rede nach.
Die zwo Rangen rupften am Event-Karton. Alina ningelte: „Wo issn mei neues Smartie?“ Oma meinte: „Smarties gabs früher auch nich.“ Mandy verdrehte die Augen. Der Onkel meinte: „Wir wurden doch nur beloochen und betroochen.“ „Das kannst grade du sagen“, meinte Vaadi: „Du hast doch bei der Betriebswache einen Lenz geschoben.“ Mandy wies die Rangen zurecht: „Jetzt wird erst aufgegessen, dann machen wird’s uns gemütlich und der Weihnachtsmann verteilt die Gaben.“
Onkel trank Bier. Vaadi trank Bier. Oma trank Kräuter. Mandy trank Sekt. Die Rangen wollten geene Goola mehr und der Eventkarton war inzwischen ziemlich lädiert. Im Zimmer häuften sich Geschenkpapiere, in denen Alina raschelte: „Woosn mei Smartie?“ Vaadi, biertrinkend, sagte: „Das war doch keene Betriebswache, damals, das war doch die Stasi!“ Mandy kreischte: „Von wegen Kampfgruppe, fremdgegangen biste! Denkste das hab ich nich gemerkt?“
Oma setzte den Plattenspieler von Ziphona, noch immer im Top-Zustand, in Gang. Es kratzte. Es kratzte erneut. Und dann erklang: „Stille Nacht, Heilige Nacht.“