Ringsum sehen wir eine
hügelige, mit Schnellverbindungen und Schutzgeländern versehene
Landschaft. Nach allen Richtungen breiten sich Europa, frei durchdachte
Marktwirtschaft und individuelle Leistungsträger aus. Das Wetter ist
den Jahreszeiten nicht mehr recht verpflichtet, wie seit einem halben
Jahrhundert üblich. Wir stecken unsern Kopf weit voraus; ein knappes
Vierteljahrhundert schreiten wir voran. Voran an Geschütze und Gewehre,
auf Schiffen in Fabriken und im Schacht hieß es einst. Jetzt gibt man
"voran" in die Tastatur ein und virtuell bieten sich Gerüche und
Geschmäcker, italienische Villenanlagen und niedersächsische
Fachwerkhäuser. Alles Gartenzaun an Gartenzaun. Die Welt ist keine
Schreckenskammer aus Ozonlöchern, erdölverschmutzten Stränden und
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Nein, sie riecht nach Kernseife, Keimöl
und Klonkulturkampf. Die große und ganze Welt ist eingefriedet und
dadurch ein wenig aus den Fugen geraten. Die hiesige Gegend hat ein
paar jüngere Einwohner verloren und ein paar nagelneue
Einfamilienhäuser - italienisch-niedersächsisches Renaissancefachwerk -
hinzugewonnen. Droben breitet sich das Erlebnisareal "Schnauferlburg"
aus; drunten gibt es die historischen Kopfsteinpflaster, die
historische Elle am Rathaus und den behindertengerechten Zugang zur
Tiefgarage unter dem noch immer nach Norden strömenden Fluß.
Wo früher ein Bahnhof stand, gibt es jetzt den
Service-Point der
Place-Change-Society (PCS). Jeden Sonntag fährt eine Dampflok der
Baureihe 015 auf dem alten, rotweißlackierten Schienenstrang bis auf
einen Sattelpunkt des Thüringer Waldes, zu einer Drehscheibe der
Dampflokgeschichte. Von dort ist es nur ein kurzes Kletterstück auf den
zweithöchsten Berg des Thüringer Waldes. Der wurde künstlich um
zweiundzwanzig Meter erhöht. Dadurch hat man jetzt exakt einen
Eintausender für Bergsteiger und Heimweh-Touristen. Außerdem lädt der
künstliche Gipfel zum Genuß der sehr oft wolkigen Rundumsicht. Von dort
oben ist ganz unten an drei klaren Tagen im Jahr das einstmals
blauweiße winzige Theaterhaus zu erkennen, das jetzt, um ein modernes
Funktionsgebäude erweitert, in historischem Weimargelb leuchtet. Vor
dem Theater hat man einen "Goethestein" errichtet, der den Namen des
Dichterfürsten in siebzehn verschiedenen Schriften verkündet, so in
chinesisch, altgriechisch, hebräisch, arabisch und in digitaler
Darstellung. Inhaltlich korrespondiert dazu eine Schiller-Stahl-Stele,
die als nach oben offene blauschimmernde Schleife über die Baumwipfel
des städtischen Parks ragt. Dieser Park hieß vorzeiten
Heinrich-Heine-Park, davor Horst-Wessel-Hain, der die Bezeichnung
"Flußaue" ablöste. Darinnen stand vor hundert Jahren die
Königin-Luise-Marmorschale, die wiederum nach dem letzten großen Sieg
der Schwarzburger die zerstörte Fürst-Günther-Säule ersetzt hatte.
Das Theater heißt in den Digitalblättern seit längerem
"Uferpalast"
nach dem Wunsch der Betreibergesellschaft. Die Papierpresse spricht
immer noch von "unserem Theater". Wir sehen es im schrägen, scharfen
Licht des Jahres Zwonullachtundzwanzig vor uns.
Den Zugang zum Theater
verschafft sich der eingeweihte, der geschulte Besucher mit der
TheaterCard. Jeder Besucher hat ein Drei-Klassen-Wahlrecht, kann sich
also für einen bestimmten Theatertyp entscheiden. Die drei Typen von
Theaternutzern haben verschiedene Codierung, können somit gelenkt,
geleitet und individuell betreut werden.
Da ist zum einen der Event-Besucher. Die
Betreibergesellschaft
organisiert zwei bis drei Mal im Monat den sog. Großen Uferpalastabend.
Für die jeweils zweihundertfünfundsechzig Zuschauer - hundertprozentige
Auslastung ist die Norm - gibt es "Aida", "Schillers Räuber" oder "Die
Wandlung der Julia Kanthe", zumeist mit einer Talk-Runde mit dem
Chefnachrichtensprecher von WorldChannel oder einem anderen Prominenten
verbunden. Das Schauspielsänger sind bei einer hundertprozentigen
Tochter der Betreibergesellschaft als sogenannte Einzel-Selbständige
engagiert. Diese Tochter versorgt weitere Bühnenpaläste und
Bruder-Fernsehkanäle mit viel komischer und etwas tragischer Kost.
Beim jedem Event ist ein Glas einheimischen biologischen Rotweins von
den historischen Reblaus-Hängen im Preis inbegriffen, ebenso ein
kostenloses Schminken für alle derzeit existierenden Geschlechter. In
den großen Pausen können die Zuschauer die reale Canaille des Franz
Moor probieren, sich als Julia Kanthe verkleiden oder versuchen, in
einer Karaoke-Veranstal-tung als "Holde Aida" mitzusingen. Das
Event-Konzept der Betreibergesellschaft funktioniert, seit die
Höchstzahl der Teilnehmer pro Veranstaltung auf 265 festgesetzt wurde.
Der Preis für ein Event pro Monat ist recht hoch, also für viele Leute
geboten. Zumindest für jene, die in den niedersächsisch-italienischen
Einfamilienhäusern wohnen.
Der Theaterprofi-Groupie ist der zweite Nutzer der
TheaterCard. Er kann
rund um die Uhr alle Einrichtungen des Theaters für sein
Arbeitsvergnügen in Anspruch nehmen, ist dafür auch TeilEigner der
Gesellschaft mit finanzieller Verpflichtung und besitzt eine
ausdrückliche intellektuelle Verfügungsgewalt über sein privates
Rollenspiel. Es gilt das Regie-Diktatur-Verbot. Die durchschnittliche
Theaterprofi-Gruppe besteht aus zeitweilig Freigesetzten,
Endversorgten, Umschülern, Hausfrautätigen und aus gemischten Früh- und
Spätrentnern mit festen Einkünften.
Theaterprofis zahlen direkt für ihre Nutzung aller
Theatereinrichtungen, sind aber auch verpflichtet, verbrauchte
Theatermittel - Schminke, Realrequisiten, Effektbeleuchtung - selbst zu
ersetzen, säubern Zuschauer- und Probenräume bei Bedarf und können
selbständig Imbiß- und Getränkestände im Theater unterhalten.
Die dritte Gruppe der TheaterCard-Nutzer, die Therapie-Genießer,
werden
über die Gesundheitskassen abgerechnet, das heißt, sie zahlen mittelbar
ihr Theatervergnügen über Kasko-Beiträge, Selbstschutz-Beteiligung
sowie die allgemeinen Umlagefonds. Im Volksmund heißen sie die
Psychospieler.
Psychospieler werden von ihren behandelnden Ärzten
direkt zum
theater-spiel-laden überwiesen, einer "gemeinnützigen Einrichtung bei
und mit dem Uferpalast" wie es offiziell heißt. Dieser
theater-spiel-laden hat eine recht kurvenreiche Entwicklung hinter
sich. Vor etwa achtzig Jahren wurde er als "Arbeitertheater des VEB
'Brot & Schönheit'" gegründet. Ein Arbeitersänger namens Ernst
Busch stand Pate. Diese Truppe der Fünfziger half damals landlosen
Bauern und vom Material befreiten Arbeitern, die Höhen der Kultur zu
erstürmen, hatte also eine sozialtherapeutische Aufgabe in einer
insgesamt repressiven Gesellschaft. Ausgangs des zwanzigsten
Jahrhunderts benannte dieses "Arbeitertheater" sich um und übernahm
nach und nach das Repertoire einer traditionellen Experimentierbühne;
die Spieler allerdings waren nach damaligem Verständnis, Amateure. Als
in der Gesellschaft die Boys-Group-Doktrin begriffen worden war,
folglich zur Norm erhoben, daß jeder Mensch ein Künstler ist, wurden am
theater-spiel-laden immer mehr Sozialtherapeuten, Spielpsychologen und
Verhaltensdarsteller engagiert. Diese führen nun an den
TheaterCard-Nutzern der dritten Art ihre Arbeit fort.