Unterwegs - Austeilen und Einstecken
Frank Quilitzsch war Kritiker und Kritisierter im Rudolstädter Bierkeller

Montag, 21. Dezember 2020

Zu den schönsten Überraschungen im Corona-verseuchten Jahr gehört für mich Matthias Biskupeks Chronik „Das literarische Rudolstadt“ (170 Seiten mit Abb., 18 Euro), ein Büchlein, das ich mir auf den Gabentisch lege. Wer glaubt, dass nur Weltstädte wie Berlin, München oder Weimar Schriftstellerskandälchen produzieren, verkennt die Triebkräfte der Provinz.
Das Kapitel über die minnesingenden Schwarzburger Staatsdichter, über Schillers Aufstieg und Falladas Fall las ich im Schnelldurchlauf. Ebenso die Höhenflüge des Greifenverlags, der nach der Wende nach Art des Rudolstädter Vogelschießend von einem Betrüger zur Strecke gebracht wurde. Mehr oder weniger Bekanntes wird hier wunderbar neu erzählt.
Länger verweilte ich bei den Amouren der lesbischen Inge von Wangenheim („Die Entgleisung“) ehe ich am Rudolstädter Kritikerseminar hängenblieb.
Kritikerseminar? Doch, das gab‘s wirklich. Unter der Obhut der Uni Jena versammelten sich Linientreue und Abweichler (keine Dissidenten!), um über Neuerscheinungen der DDR-Literatur zu streiten. Auch wenn einige sich jetzt anders sehen wollen, hatten alle Kritiker eines gemein: Sie wollten den Sozialismus nicht abschaffen, sondern verbessern.
Ich studierte Germanistik, eine Fachrichtung, die ich heute den brotlosen Künsten zuordnen würde, und war begeistert. Im Bierkeller der Rudolstädter der Rudolstädter Bezirkskulturakademie saß man auf Augenhöhe mit Professoren, Lektoren und Autoren. Einer, zu dem ich aufschaute, hieß Landolf Scherzer. Seine Reportage „Fänger und Gefangene“ wurde im ersten Seminar vielstimmig gewürdigt. Den Kritikerpreis gewann ein gewisser Biskupek. Beteiligt habe ich mich erst später mit einer Kritik zu Günther Rückers Band „Onkel Oe. Hilde das Dienstmädchen.“ Ich teilte ordentlich aus, wurde Zweiter und erhielt einen Bücherscheck.

Bei einem der letzten Kritikerseminare stand mein eigenes literarisches Debüt („Holunder aus dem Dach“, Greifenverlag 1987) im Fokus. Zum Glück war ich im Ausland. Neben allerlei Lob wurde mir auch ein Verriss ans Kulturzentrum in Damaskus nachgesandt.
Ich ärgerte mich fürchterlich.