Eine
Autobiografie in Geschichten, das ist doch mal was! 66
Lebensgeschichten in einem Leseband, der Raum für Kommentare
lässt. Der Rudolstädter „Rentnerlehrling“ Matthias Biskupek
hat damit bereits vorfristig sein spätes Meisterstück
verfasst.
Der Mann ist nicht zu beneiden. Hat 66 Jahre auf dem Buckel und
den Kopf voller Geschichten. Schreib mich, schreib mich auf!
quengeln sie. Und streiten, welche von ihnen die bessere, die
originellere, die politisch brisantere sei. Denn für jedes
Lebensjahr gibt es nur Platz für eine. Am Ende teilen sich 66
Lebensgeschichten einen schönen, dicken Band, in dem auch noch
Raum für Kommentare bleibt.
Eine Autobiografie in Geschichten, das ist doch mal was! Der
Rudolstädter Rentnerlehrling Matthias Biskupek hat damit bereits
vorfristig sein spätes Meisterstück verfasst. Erinnertes,
Erhörtes und Unerhörtes in einem bewegten Leben gehen in dem
Band eine erfrischende und durchaus auch lehrreiche Symbiose
ein. Von 1950 - die längste Zeit des Jahres schwamm er da
allerdings noch im Fruchtwasser - bis 2015, wo die letzte
Eintragung in den beruhigenden Bandwurmfortsatz mündet:
Letztlich muss ich doch nicht verhungern, denn ich lebe in einem
Sozialstaat und am Horizont zeigt sich eine Rente, die
allerdings erst ab März des Jahres 2016 gezahlt werden wird,
oder vielleicht auch erst, wenn ich meine siebenundsechzigste
Lebensgeschichte geschrieben haben werde, was grammatisch die
vollendete Zukunft sein sollte.
Ein Vielschreiber im besten Sinne
Biskupeks Biografie auf die Schnelle: geboren in Chemnitz,
aufgewachsen in Mittweida, Abitur, Maschinenbauer,
Ingenieurs-Studium in Magdeburg, Regieassistent und Dramaturg am
Theater Rudolstadt, seit 1984 freischaffender Schriftsteller und
Journalist.
Man spürt den Spaß, den der Autor bei der Auswahl der Texte hat,
die ganz bestimmte Momente (Höhe- und Tiefpunkte) eines Lebens
beleuchten - er schreibt nicht alles neu, sondern schöpft auch
aus seinen fast 40 Büchern und lanciert den einen oder anderen
passenden Zeitschriftenbeitrag. Ein Vielschreiber im besten
Sinne ist dieser Biskupek, der jeden Morgen mit seinem Tagebuch
erwacht und es kaum erwarten kann, sich an den Computer zu
setzen, um Worte in die Welt zu schicken - lyrische, prosaische,
theater- und literaturkritische Worte oder Zeilen zum
tagesaktuellen Blog, den er auf seiner Website pflegt.
Vielleicht ist auch Der Rentnerlehrling nur eine Art Blog oder
besser: ein Logbuch, das erzählt, wie sich ein vielseitig
interessierter und begabter Mensch durch die Fährnisse der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis ins neue Jahrtausend
manövrierte. Zu jeder Jahreszahl ein kurzer Kommentar als
Orientierungshilfe, dann lässt der Verfasser die Erinnerung
selbst auftreten, oft ansatzlos, so dass man manchmal überlegen
muss, wer da gerade spricht.
Das Anecken Biskupeks manifestiert sich in zugespitzten Texten
Man erfährt vom besonderen Geschichtsverlauf im sächsischen
Mittweida, wo der spätere Rentnerlehrling mit zwei Brüdern und
einer Schwester aufwächst. Den 17. Juni 1953 gab es in der
Kleinstadt nicht..., heißt es. Biskupek will ihn nicht erfinden,
erzählt stattdessen von zwei Widerstandskämpfern, die zu
unterschiedlichen Zeiten als Zeitzeugen in derselben Schule
auftreten. Der eine hat unter den Nazis in Sachsenhausen, der
andere Jahrzehnte später im DDR-Zuchthaus Bautzen gesessen. Die
Schule heißt POS Rosa Luxemburg und wird in Mittelschule
Unterstadt umbenannt. Es gebe so viele Halbwahrheiten, beklagt
der aus Schlesien stammende Vater, eine der interessantesten
Figuren des vielstimmigen Mosaiks. Als Neulehrer eckt er an,
muss zur Bewährung in die Wismut, wird wieder Lehrer,
Schuldirektor gar, und eckt abermals an. Etwas von dieser
Widerständigkeit, sich nicht in opportunistische Verhältnisse zu
fügen, hat auch der Rentnerlehrling, sein Anecken manifestiert
sich meist literarisch in kritisch zugespitzten Texten. Mal
schimmert der Dialektiker Brecht durch die Zeilen, mal der
Volkshumorist Karl Valentin. Wie die beiden mag es auch der
Autor nicht, wenn Leute meinen, die Wahrheit für sich gepachtet
zu haben. Ein weites Feld, das sich da vor und nach der Wende
auftut und das auf unterschiedlichste Weise beackert wird.
Welcher Autor ist schon vor Eitelkeit gefeit?
Zu den in Jahresringen verabreichten biografischen Details -
Kindheit, Elternhaus, Penne, Zirkel schreibender Arbeiter,
Poetenseminar, Studium usw. - gesellt sich die literarische
Biografie, die von den Hoffnungen und Widersprüchen der DDR, der
Wende und dem wiedervereinten Deutschland erzählt. Die
Zwischenmoderation erinnert ein bisschen an beliebte
TV-Sendungen wie Damals wars von Hartmut Schulze-Gerlach.
Welcher Autor ist schon vor Eitelkeit gefeit. Biskupek würzt
seine mit Humor und Selbstironie. Das macht ihn sympathisch.
Auch wenn sich mitunter Dichtung und Wahrheit mischen, entsteht
doch ein realistisches Bild vom widersprüchlichen Verlauf der
Geschichte, das sich manch gängiger Vereinfachung entgegenstellt
- poetisch, humorvoll, lebendig. Ein Lesebuch, in dem man auch
schon vor der Rente nach Herzenslust blättern kann. Überflüssig
ist nur der bemühte Rahmen, bestehend aus Prolog und Epilog.
Matthias Biskupek. Der Rentnerlehrling. Meine 66
Lebensgeschichten. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015,
19,95 Euro