Es waren einmal 66 Lebensjahre

Es waren einmal 66 Lebensjahre
Matthias Biskupek, der Rudolstädter Sachse, hat jetzt ein amüsantes Buch herausgebracht, von dem man glauben könnte, es handle sich um eine Stammtisch-Biographie. Aber eine allemal lesenswerte.
Von Heinz Escher

Mehrfach haben wir in dieser Zeitung vorgewarnt. Wem Matthias-Biskupek-Texte in die Hände fallen, ob zeitnah oder zeitlos, muss wissen, worauf er sich einlässt und auf einiges gefasst sein. Der im sächsischen Mittweida aufgewachsene Rudolstädter Autor hatte schon immer ein Faible für amüsante innerdeutsche Lebenskunde, Unterabteilung schöngeistig-wortwitzige Regional-Aufklärung. Lesend, eulenspiegelnd, wochenblatt- und tageszeitungsräsonierend oder eben bücherfüllend. Krisenresistente Wetterberichte oder Streifzüge durch den Thüringer Kräutergarten kolportierend, Böhmische Dörfer in Deutsch und Geschichte erläuternd ("Was heißt eigentlich 'DDR'?"), hiesige Nachwendejahre schlagbelichtend ("Das Glück des richtigen Geldes") oder hoch(un)anständig hinter die Kulissen schauend in einem Provinztheater tief im thüringischen Osten ("Eine moralische Anstalt").
Jetzt hat der Mann mit 65 seine 66 Lebensgeschichten offeriert. Inkognito sozusagen, weshalb unsereins allen Grund hätte, von einem cleveren handwerksliterarischen Schachzug zu sprechen. Denn nicht der Biskupek erzählt die Geschichten, sondern seine Lebensjahre, eines nach dem anderen. Stellen sich vor, im Faktencheck der Ereignisse und Begebenheiten, und legen los. Eine horrende Mischung der Fabulierkunst: Phantasie und Wirklichkeit, der Wahrheit dienende Halbwahrheiten oder auch Erzähltes, das erst noch zu erleben ist. Und was ihr Mentor, derentwegen sie ja auf die Welt gekommen sind, sonst noch so alles auf der Pfanne hat. Schließlich der Clou vom Ganzen: Für Anfragen und Beschwerden sind die Lebensjahre dann schon wieder verjährt. Finito. Pech gehabt.
Nobelpreis in Sicht?
Die ältesten Jahre seines Daseins, von heute auf damals, die Anfang-Fünfziger mithin, hatten keinen leichten Job. "Matti" war noch nicht so richtig auf den Beinen und sein Verstand befand sich zweifelsohne erst in der Entwicklung. Dafür gab es Vater und Mutter, den Urahn aus dem Eichenfässchen, Onkel Theo und Tante Mia. - 1973 hingegen, das Jahr der X. Weltfestspiele in Berlin, hatte allen Grund, die Backen aufzublasen. Als ein euphorisierter (später "sanft staatsverdrossener") Matthias B., Radiobastler und Student der technischen Kybernetik, mit seinen Magdeburger Kommilitonen beim "Wernesgrüner" im "Fischerufer" klärte, wie sie die Welt umstülpen und spätestens in den Neunzigern den Nobelpreis erringen würden. Daraus wurde aber nichts. Denn 1989, wie wiederum dieses Jahr zu berichten weiß, wurde in dessen Anwesenheit das 1914 begonnene kurze 20. Jahrhundert beendet. Und vor den Mai-Wahlen zur Volkskammer las der Viel-Stücke-Schreiber aus dem Saaletal den bis dato ungedruckten Text: "Wie produziere ich keine Nein-Stimme?" Und im Jahr darauf war er Mitglied einer repräsentativen Gruppe von Noch-Bürgern aus der DDR, die Japan kennenlernen sollten. Und die Japaner ihrerseits wollten endlich echte Revolutionäre sehen.
So gingen die neudeutschen Jahre ins Land. Mit ungeahnten Highlights der Karriere, verbalen Offensiven gegen rechts, einem verkorksten arabischen Frühling, dem Duft von Detschern, erotischen Cursdorfer Porzellanmärchen - und der Reichtum im Lande wurde weiter heftig umverteilt. Nur eben in die falsche Richtung. Bis anno 2015 Rentnerlehrling Achim, der begnadete Rechner und Erfasser, eine nagelneue Studie zur Würdigung von Lebensleistungen erarbeitete und die Rente in zehn Jahren auf 200 Prozent hinaufprognostizierte. Wer weiß, vielleicht gibt's dann am Ende doch noch den Nobelpreis für Sozialromantik.
Im Epilog dieser nun wirklich nicht alltäglichen, einer Kabarett-Retrospektive verdächtig nahen Lektüre jedenfalls kam es, wie es kommen musste: Die 66 Lebensjahre gerieten sich in die Wolle, weil das eine dem anderen die Pointe nicht gönnte. "Dabei gäbe es doch so viel zu erzählen, was noch zu erleben wäre", warf Herr B. ein, gerade noch rechtzeitig, bevor sein Verlag kurzerhand den Bühnenvorhang schloss: "Sollen doch andere weitererzählen..."
Was von alledem die Leser halten, ist freilich jedem selber überlassen. Immerhin haben wir Meinungsfreiheit und unsere demokratische Grundordnung. Einer allerdings glaubt schon heute, es handle sich um so etwas wie eine erbauliche Version von Autobiographie an den Stammtischen der jüngeren Zeitgeschichte. Mal was Neues für die Literatur-Annalen, hierzulande und auch anderswo. Eine Biskupekographie! Eine launische dazu. Eine lesenswerte allemal.

Matthias Biskupek. Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 19,95 Euro