Biskupek liest in Bad Langensalza aus dem „Rentnerlehrling“

Wilhelm Bartsch
Generation zwischen Rosa und Radio Luxemburg
Matthias Biskupeks Kaleidoskop mit 66 Lebensjahren

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“, und seit vorigem Jahr können wir uns nicht nur mit dem herrlichen Kolumnen-Buch „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“ von Andreas Maier mehr als nur vergnügt die Augen reiben darüber, was wir bisher so übersehen haben in seiner Größe, sondern auch mit Matthias Biskupeks „Rentnerlehrling“, Untertitel: „Meine 66 Lebensgeschichten“. Aber: „Udo-Jürgens-Musik setzte immer voraus, dass sie Udo Jürgens machte“, schreibt Andreas Maier. Nur durch Jürgens selbst wäre alles zu erster Qualität geworden, wo Andere auf demselben Weg meist in schnell verwehender Unterhaltung oder gar im Kitsch landeten.
Ebenso ist es mit den Texten von Matthias Biskupek. Außer Biskupek kriegt keiner richtige Biskupek-Texte hin, und das ist immer ein Zeichen für eigenständige Qualitäten.
Wer Matthias Biskupek nicht kennt durch seine zuallermeist satirischen Romane und Geschichten und Gedichte, seine Karl-Valentin-Biographie, seine Kabaretttexte, seine bibliophilen Bücher, seine Theaterarbeit oder seine Feuilletons und Features vor allem bei Deutschlandradio Kultur und beim MDR, der weiß meistens mit seinem Namen dennoch etwas anzufangen, zumindest wenn er in Deutschland mehr östlich sozialisiert und Zeitungsleser ist, besonders Leser der „Weltbühne“ und von „Ossietzky“ und vor allem Leser des Satiremagazins „Eulenspiegel“, bei dem Biskupek von 1982 bis 2012 - und seither dort immer noch gelegentlicher Mitarbeiter - seine beliebte monatliche Buchkolumne schrieb, woraus einige Sätze sprichwörtliche Klassiker geworden sind, zum Beispiel in den Achtziger Jahren einmal die Kürzestbesprechung eines Bandes mit erotischen Fotos: „Das ist DDR-Sex unter dem Motto ,Muddel, mach disch nacksch!`“
Die Farben und Themen auf der Palette seines auch äußerlich schön gelungenen Buches sind weitgefächert. Da gibt es engagierten, bei aller Angriffsschärfe gerecht bleibenden Journalismus wie etwa in seinem Text „Rose Schwartz und die Folgen“ von 1992, drei Seiten knappste Geschichten über sippenhaftähnliche Zustände in ostdeutschen Wendeschicksalen, 1996 „Wie haben wir Dichter gesungen?“, eine kluge Auseinandersetzung mit den damals heimlichen und heute den öffentlichen Denunzianten in Deutschland, oder auch „Zerrissene Gesangsbücher“ von 2008, das sich mit einem bundesweit verfolgten Fall angeblicher Ausgrenzung eines Pfarrers samt seiner Familie in Biskupeks Wohnort Rudolstadt beschäftigt, das als „muffiges Zonistan“ abgekanzelt wurde. Manchmal ganz Persönliches, oder auch öfters mal Biographisches seiner Eltern als historisches Senkblei wechselt ab mit solchen Tall Tales in bester Mark-Twain-Tradition wie „Die Spekulantentasche“, wo in uns bei einem grotesken Zusammenstoß einer rußlanddeutschen Matka und einer Prenzelbergmutti in einer Berliner Straßenbahn gleich auch jüngste Ereignisse mit einem angeblich entführten Mädchen wach werden. Wir haben hier keine bedeutsam zwischen den Zeilen vor sich hinmurmelnde Geschichtsschatulle á la „Mein Jahrhundert“ von Günter Grass vor uns, sondern, wie schon der Rückseitentext hervorhebt, ein eher buntes Kaleidoskop zusammen mit der Frage „Was ist Wahrheit, was Phantasie?“ Dennoch ist dieses Buch kein Sammelsurium, das allein durch den groben Faden der Biskupekschen Lebensjahre zusammengehalten wird, sondern bestimmte Zeitmarker lassen uns immer wieder an dieses von Biskupek konstruierte sehr symphatische Zeit- und Raumschiff andocken, etwa 1974 das Jürgen-Sparwasser-Tor gegen die BRD, erlebt im Kreis amerikanischer Matrosen und sowjetischer Komsomolzen in Odessa, oder das Jahr 1980: „Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, und im Geraer Kabarett bekämpften wir unnachsichtig betriebliche Schlampereien. Rubiks Zauberwürfel war in aller Munde und wenigen DDR-Händen“. Dann folgt ein Abschnitt Tall Tale vom feinsten, „Den Ofen anheizen“, und zwar einen Ofen in einer konspirativen Wohnung der Stasi. Dort heißt es etwa so in ja sicherlich nicht nur biskupekschem Dienstanweisungsdeutsch: „Bei weiblichen IMV sind biologische Materialien (Blumenangebinde) in Anschlag zu bringen“. Auch sonst geistern durch das Buch aus dem realsatirischen DDR-Kosmos viele hier eher unübliche Wortverdächtige wie „Mumienexpress“, die Duschkabine „Ahlbeck“, die Doppelbadewanne im Stadtbad, „nur für Ehepaare“, oder das „Blutgerinnsel mit Eiterbatzen“, wie Ende der Sechziger ein Mixgetränk aus Eierlikör und Kirsch-Whisky genannt wurde. Aber solche Stücke aus dem zuweilen seltsamen Panoptikum des DDR-Alltags werden meist nur am Rande erwähnt. Was das Buch ausmacht, ist die schöne Selbstverständlichkeit, mit der Biskupek durch die Provinz zieht, inklusive Berlin, wo er eine Zweitwohnung hatte. Keine ach so welthaltige Bedeutungshuberei, nirgendwo. Kein lässiges Namedropping, kein „ich und Reiner Kunze, ich und Erich Loest oder ich und Brigitte Reimann“, dafür würdigt Biskupek ganz selbstverständlich auch jene wackeren Streiter in der Provinz, ohne die es auch in Berlin keinen Wandel gegeben hätte, so etwa Klaus Fiedler, Oberspielleiter in Rudolstadt, dem auch Ingo Schulze in seinem Roman „Neue Leben“ ein Denkmal gesetzt hat. Ich fragte mich beim Lesen die ganze Zeit, woran mich dieser freie und so gar nicht provinzielle Geist zuweilen erinnerte und kam schließlich doch noch darauf: an die „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ von Wilhelm von Kügelgen, der, auch ohne Berlin und Paris darin, mit die wichtigsten Erinnerungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinterlassen hat. Biskupek bleibt quasi schön auf seiner Auslegware und vermag dadurch mehr als durch weise Welterklärung und großartige Teppichfliegerei. Er und ich sind desselben Jahrgangs. Kann sein, daß ich deswegen noch mehr zwischen seinen Zeilen zu lesen in der Lage war als andere - aber möglichst viele Leser! Matthias Biskupek gebraucht in seinem 1965er Kapitel die Wendung von der „Generation zwischen Rosa und Radio Luxemburg“, die vermutlich von Steffen Mensching stammt. Sofort flutete mich „geheimes“ Wissen, das eine Generation miteinander teilt, die wie keine andere von Anfang der DDR an mit dabei war.

Matthias Biskupek. Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 19,95 Euro