Eigentlich hat er seinen 65. noch vor sich. Den feiert Matthias
Biskupek erst im Oktober. Aber wer gewitzt ist, baut vor und
schreibt das Buch zum hypothetischen Eintritt ins Seniorenalter
schon vorher fertig. Auf die Idee, eine Geschichte mit dem Titel
"Der Rentnerlehrling" zu schreiben, kam der Autor aus Rudolstadt
ja schon vor Jahren. Die schlummerte in einer Schublade oder
irgendwo auf der Festplatte des Rechners.
Während der Satiriker mit sächsischen Wurzeln (Chemnitz,
Mittweida) und heute im manchmal gar nicht so beschaulichen
Rudolstadt in Thüringen Lebende, emsig durch die Welt reiste, an
Werkstätten, Tagungen und Stammtischen teilnahm, manchmal auch
nach Leipzig einfliegt. Denn hier liegen die Wurzeln
mütterlicherseits und lebt ein Bruder, der eigentlich
Schriftsteller werden wollte (und dann doch auf Journalist
studierte). Das verkniff sich der listige Zweitgeborene in der
streng reglementierten DDR-Zeit lieber und studierte in
Magdeburg Kybernetik, um dann übers Theater und das Kabarett
doch den Weg zum Schreiben zu finden.
In DDR-Zeiten sorgte er mit durchaus ungewöhnlichen
Satire-Bänden für heftig erfreute Leserschaften. Und die
Bändchen gehören heute alle noch in die Staunemann-Kategorie,
weil man nach all dem Gezerre in den deutscheinheitlichen Medien
das vage Gefühl hat, dass es so etwas in der DDR gar nicht
gegeben haben kann. Hat es aber. Die „Meldestelle für Bedenken“
genauso wie „Veröffentlichtes Ärgernis“.
Was andererseits auch nicht mehr so überrascht, wenn man weiß,
dass er mit Leuten wie Heinz Knobloch und Landolf Scherzer gut
befreundet war und in einer sächsischen Stadt namens Mittweida
aufgewachsen ist, in der ein anderer Unverwüstlicher einst groß
wurde: Erich Loest. So etwas prägt. Und es ergibt auch Stoff für
Geschichten. Jede Menge Geschichten, die sich bei einem Erzähler
wie Matthias Biskupek eigentlich gegenseitig auf den Fuß treten.
Da kommt der 65. gerade recht. Da könnte man ein bisschen
Ordnung in die Sache bringen und das alles hübsch nacheinander
erzählen.
Hat er sich so gedacht.
Und versucht, von Anfang an loszuerzählen, vom Jahr 1950 an, als
er in Sachsen (das damals auch noch Sachsen hieß) zur Welt kam
und sein Vater Neulehrer war, was der nicht lange bleiben würde.
Denn wer seinerzeit in der gerade erst ein Jahr alten DDR zur
Welt kam, musste von Anfang an damit rechnen, Teil der Welt- und
der Zeitgeschichte zu werden, der politischen Um-, Ab- und
Holzwege sowieso. Was wie eine schöne wilde Rabaukenkindheit in
Mittweida beginnt, entpuppt sich ziemlich bald als eine kleine
familiäre Zickzacktour durch die neuen Zumutungen, Brüche und
Anmaßungen der Zeit, die erst einmal den Vater betreffen (der
Jahre zuvor in den falschen Spanienkrieg geschickt worden war,
was ihm viel, viel später als Zuschlag bei der Rente zugute
kommen sollte … wie gesagt: Wer im Osten zur Welt kam, musste
mit den verrücktesten Überraschungen rechnen, mit Knicken und
Dellen in der eigenen Biografie sowieso …).
Natürlich hat das auch ein satirischer Kopf wie Matthias
Biskupek in DDR-Zeiten lieber so nicht aufgeschrieben, sondern
bestenfalls verwandelt und ins Eulenspiegelhafte verkleidet als
Persiflage oder Narrengeschichte, das ging immer, die
Wochenzeitschrift „Eulenspiegel“ lechzte danach, die „Weltbühne“
druckte gern mal Hintersinniges und der Eulenspiegel Verlag
machte auch gern Bücher, die die Leute wegkauften wie frische
Semmeln. Weshalb man nicht unbedingt damit rechnen konnte,
Biskupek-Bücher auf dem Ladentisch zu finden. Ein kleines
Techtelmechtel mit der Verkäuferin war immer gut.
Einiges wurde auch dem satirischen Thüringer seinerzeit
abgelehnt oder aussortiert, ganz zu schweigen von der üblichen
Wartezeit auf die Druckerlaubnis. Da sammelte sich schon
Manches, was nur darauf wartete, dass diese Genehmigungspraxis
(natürlich war das KEINE Zensur), irgendwann fiel. Und das tat
sie ja bekanntlich auch im frühen Jahr 1989 und alle, wirklich
alle Verlage im Land schickten die seit Jahren fix- und fertigen
Manuskripte an die Druckereien, die müden Maschinen ratterten
los und pünktlich mit der Währungsreform 1990 wurde der
ostdeutsche Buchmarkt mit hunderten Titeln geflutet, auf die
alle Leser schon seit Jahren verzweifelt gewartet hatten.
Wer sich erinnert: Die meisten dieser Bücher kamen nicht in die
Läden, sondern wurden containert oder vergammelten in den
Lagern, weil die Buchhandlungen sofort zugeschwemmt waren mit
Bergen von Westware, auf die natürlich noch viel mehr Leser noch
viel länger gewartet hatten. Das Malheur erwischte auch den ein
oder anderen Biskupek-Titel. Danach auch den ein oder anderen
Verlag, der zuvor jedes seiner Bücher gern genommen hatte. Und
so wurden auch die 1990er Jahre eine Zeit, in der der wahlweise
Rudolstädter-Berliner seine kleinen brillanten Texte eher nur
für Klein- und Kleinstauflagen schrieb. Auch davon findet man in
dieser Sammlung reichlich, da und dort auch ein Textchen, das
schon mal in einem richtigen Buch stand.
Denn ganz unbeachtet blieb der zwischenzeitlich letzte
Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Gera ja nicht, auch wenn
seine Texte eigentlich nicht in die Buchhandlungsecke passen,
über der heutzutage sinnigerweise meist „Humor“ steht. Satire
und Humor sind nicht mal miteinander verwandt. Aber das wissen
meist nur die Leser, die extra eine Lupe mitnehmen, um in ihrer
Lieblingsbuchhandlung mal einen neuen satirischen Band zu
finden. Die Humor-Leser ärgern sich immer nur, wenn sie
irrtümlicherweise mit einem Satireband in der Couch-Ecke landen:
Sowas muss man erst studieren, sonst versteht man die Pointen
nicht.
Zumindest, wenn man mit Humor gelebt hat die ganze Zeit. Satire
braucht ein paar Ecken mehr im Kopf, um die man denken kann.
Deswegen sind den Nicht-Zensoren in der DDR auch so viele schöne
Stellen durch die Lappen gegangen. Zur Freude der suchgewohnten
Leser.
Aber natürlich ergeben 66 Geschichten aus allen Lebens- und
Gesellschaftslagen noch keinen roten Faden. Eher einen bunten.
Da muss also noch was dazu, eine Art verbindendes Element. Also
gibt es zu jedem Lebensjahr auch eine kleine Vorgeschichte, die
auch die Hinter- und Nebengründe miterzählt. Zum Beispiel, warum
der angehende Kybernetiker in Magdeburg nichts Besseres
anzustellen wusste, als eine Kneipentopographie zu erstellen,
oder warum er dann aus der sozialistischen Produktion doch
weiterdelegiert wurde in die Kunst. Natürlich begegneten ihm
auch dort die Herren mit dem Klappfix. Aber wirklich inflationär
wird die Stasi auch bei ihm erst nach dem turbulenten Jahr 1989.
Wie auch anders? Vorher wurde nicht drüber geredet, hinterher
war alles voll davon.
Da vergisst man schnell, dass die DDR tatsächlich mal ein
eigenständiges Land war, das seine Bewohner prägte, sie Russisch
lehrte (was auch bei New-York-Besuchen ganz hilfreich ist), aber
auch auf etwas schwejksche Art selbstständig machte. Die
seelische Verwandschaft zum benachbarten Böhmen wird in einer
Geschichte mit Freude durchdekliniert. Ein studierter Schwejk
aus Rudolstadt? In gewisser Weise schon. Und den Ton trifft er
noch immer, dieses fröhliche Blinzeln in kleinen Geschichten
über den so gern politisch missbrauchten Zeitgenossen. „Wir
Beuteldeutschen“ und „Der Quotensachse“ erschienen beide in den
1990ern. Treffende Gegenzeichnungen für ein wieder mal
übergestülptes Fremdbild, dem man eigentlich nur noch beikommen
kann, indem man es auf die Spitze treibt: „Horrido, Genossen!“
2004. Das war die Zeit, bevor die gebeutelten Verlage nicht nur
im Osten anfingen, doch lieber wieder Heimat-, Kriminal- und
Kochliteratur in Stapeln zu produzieren. Die trainierten
Satire-Leser sind selten geworden. Oder haben kaum noch Zeit für
den versteckten Spaß, weil sie abends mit Kopfschmerzen Glotze
und PC ausschalten, weil die menschlichen Dummheiten auch die
wildeste Satire übertrumpfen.
Aber auch wenn Matthias Biskupek am Ende noch eine Zugabe
draufpackt und sich freut, das Rentnerlehrlingsbuch noch vor dem
einschlägigen Geburtstag fertig bekommen zu haben, wird er wohl
einer von denen sein, die ganz und gar nicht verstummen, sondern
mit Schalk im Nacken das Ihrige schreiben zur Zeit und ihren
Läufen und Spielfiguren, die wir ja alle sind. Nur glauben das
manche von uns nicht, die anderen wollen es nicht wissen. Und
die es wissen, tun so, als wüssten sie von nichts. Wer sich die
Welt aus so listiger sächsisch-thüringischer Perspektive
beschaut, der merkt, wie seltsam die Ausreden sind, mit denen
sich immer wieder neue Helden der Geschichte ins Licht wagen und
lärmen und verschwinden. Und dann muss man doch wieder in den
Kalender gucken, um zu sehen, wie spät es doch ist.
Matthias Biskupek. Der Rentnerlehrling. Meine 66
Lebensgeschichten. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015,
19,95 Euro