Matthias Biskupek: Der zentralistische Ideologe

Gelegentlich reibt man sich morgens die Augen und meint, es sei gestern. Vor allem, wenn man Tageszeitungen liest. So fand sich kürzlich im Berliner "Tagesspiegel", das gern den Dingen auf den Grund geht, die "Rezension" geheißene ideologische Zurechtweisung eines Buches, das schon allerlei Besprechungen hinter sich hat: Landolf Scherzers "Grenz-Gänger". Spurensuche fünfzehn Jahre nach Grenzöffnung zwischen Thüringen, Bayern und Hessen.
Der Zurechtweiser namens Hans-Joachim Föller schien äußerst ungehalten. Das Buch vermittle ein "manichäisches Weltbild"; es verzerre die Wirklichkeit. Scherzer sei alter SED-Propagandist. Solche Töne kannte ich von früher, wenn Allwissende, die ihren Marxismus mit Löffeln gefressen hatten, Künstlern die Welt erklärten. Da der Zurechtweiser auch noch wörtliche Zitate den falschen Personen in den Mund gelegt hatte, glaubte ich das in einem winzigen Leserbrief anmerken zu müssen - ich hatte das Buch ja auch gelesen. Die Leserbriefredaktion teilte mit, daß man meinen Text leider nicht veröffentlichen könne, da zu dessen Verständnis die Kenntnis des ursprünglichen Artikels nötig sei.
Ei, dachte ich, ist das bei Leserbriefen nicht immer so? Doch in veränderter Welt - Große Koalition, Vogelgrippe, Elfter September - sind vielleicht nur Leserbriefe möglich, die sich nicht konkret auf einen Beitrag beziehen?
Ich lebte und las weiter - und fand bald darauf in zwei thüringischen Blättern erneut Hans-Joachim Föller. Wieder Scherzer, wieder verzerrte Weltbilder. Nanu, dachte ich, da verdient also der arme Föller mit immergleichem Text mühselig sein Geld - doch will man es ihm verdenken? Vielleicht ist er Opfer ohne Opferrente?
Dann guckst Du eben mal in eine süddeutsche Zeitung, am besten die größte, die so gern Qualitätszeitung heißt. Doch was fand ich? Richtig, lieber aufmerksamer Leser, ich fand den guten Hans-Joachim mit all seinem, mir inzwischen wohlvertrauten, ideologischen Schaum vorm Mund. Tief tauchte ich jetzt die Feder in die Tinte - das ist bildlich gesprochen, denn Literatur, liebe Leser, arbeitet mit Bildern - und schrieb dieser großen Zeitung: "Zum wiederholten Mal muss ich jetzt die Meinung von Hans-Joachim Föller (...) lesen. Gibt es neuerdings eine 'zentrale Argumentation', wie früher in der DDR, oder hat sich hier nur ein kalter Krieger ins Gebiet der Literaturrezension verirrt? Der Autor wirft Landolf Scherzer - kein 'SED-Propagandist', sondern seit Jahrzehnten literarischer, in der DDR oft gemaßregelter Publizist von Rang - 'irreführende Zitate' vor. Mit Scherzers 'schlichtem Weltbild' werde 'ein Zerrbild der wirklichen Verhältnisse (konstruiert)'.
Die Wortwahl im Beitrag erinnert mich fatal an einstige parteiideologische Zurechtweisungen, die Schriftstellern schon immer ein falsches Weltbild unterstellten. Man muss auf den Gedanken kommen, Hans-Joachim Föller gehöre der Ideologiekommission der SED-Kreisleitung Hildburghausen an - doch die hat sich ja zum Glück bereits vor fünfzehn Jahren erledigt."
Man war für meinen Leserbrief sehr dankbar. Man werde ihn auswerten. Leider könne man ihn nicht drucken, bei der Vielzahl von Leserbriefen. Vermutlich gibt es sehr oft Beanstandungen, wegen ständiger "zentraler Argumentation".
Unglücklicherweise treffe ich da auch noch den Redakteur eines der thüringischen Organe mit dem Föller-Beitrag. Ich spreche ihn darauf an. Er verdreht die Augen gen Himmel: Das mußten wir drucken. Das kam von oben. Wo ist oben bei einem Printmedium? Wir reiben uns beide die Augen und denken schon morgens, es sei gestern ...