Kein schöner Land …

"Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet" lautete der Titel einer leiden-schaftlichen Rede über die Wirkmächtigkeit des Theaters, die Schiller im Jahre 1784 vor der "Deutschen Gesellschaft" zu Mannheim hielt. Darin pries unser vom Idealismus überwältigter Räuber- und Hymnen-Dichter einem erlauchten Kreis ehrbarer Bürger und Adelsmenschen, Abteilung: "Kultur zum Zeitvertreib", das Theater in den enthusiastischsten Tönen als ultimative Wunderwaffe gegen den sittlichen und sozialen Zerfall der Gesellschaft in immer mehr Mächtige und viele weniger Mächtige. Jedoch: "Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe".

Biskupeks Roman "Eine moralische Anstalt" ist gespickt mit ironischen Anspielungen auf dieselbe, als jene nämlich noch fest in staatssozialistischer Parteihand war, unter gestrenger Aufsicht der Unterabteilung "Horch und Guck", die unter Moral ausnahmslos den richtigen Klassenstandpunkt verstand.
Die Beschreibung dieser "Anstalt" und ihrer darin befindlichen "Anstaltszöglinge" entpuppt sich im Laufe des Lesens als ein höchst vergnüglicher realsatirischer Enthüllungsroman aus dem DDR-Theaterbetrieb der siebziger Jahre, in dem es nur so wimmelt von schlitzohrigen Gemeinheiten und treffsicherem Witz. Die Schilderung der Ereignisse und teilweise recht grotesken Verwicklungen ist zugleich eine liebevolle Hommage an all die wild ent-schlossenen und listenreichen Theaterverrückten, die vorzugsweise an den Bühnen der Provinz mit Leib und Seele Theater machten. Biskupeks episodenhaft aufgereihte Geschichten – in jedem Kapitel wird jeweils ein anderer Protagonist porträtiert, der die pointenreiche Geschichte am Laufen hält – sind ein Bummel durch eine Zeit, "als die Welt noch nicht in Ordnung war, das Leben spitzfindig oder stumpf und die Theater keine Mängelbedarfsklagen hatten, sondern einen Anspruch".
Unschwer ist für Insider und Betroffene das "Theaterchen unter der Schnauferlburg" als das thüringische Landestheater Rudolstadt zu erkennen, an dem Biskupek von 1976 – 1979 Regieassistent war.
Das Große Haus unter der Schnauferlburg hat keinen Eisernen Vorhang. "Goethes Bratwurstbude brauchte keinen; jetzt fehlen die Kapazi-täten. Geld wäre vorhanden, aber Kapazitäten gibt es nicht. Wir befinden uns in einer Epoche mittleren durchschnittlichen Widersinns, da zwischen Geld und Kapazität ein Abgrund klafft. Jede Erklärung, warum das so ist, zerschellt an einem Gebirge von Absurditäten." Diese Absurdität erklärt möglicherweise aber auch eine Reihe von anderen Merkwürdigkeiten: Warum beispielsweise die Planstelle des Musikdramaturgen ausgerechnet mit einem trotteligen Bernhardiner mit goldfarbenen Au-gen namens "Bernhard Hundetüm" besetzt ist, der wiederum dem Schauspieldramaturgen gehört, der möglicherweise in vorauseilendem Gehorsam eine Art Planstelle schachert, die sonst nicht besetzt werden würde – wegen der Kapazitäten natürlich …
Das Spannungsverhältnis zwischen Theater und kontrollierender Außenwelt und den Ver-suchen des ersteren, die zweite unter DDR-Bedingungen zu ändern, gibt dem Roman sei-ne besondere Würze. Die Stasi ist allüberall und wuselt im ganzen Haus in Form von linientreuen und von Kultur weitgehend unbeleckten IM-Spitzeln herum, die gewissenhaft jedes Anzeichen konterrevolutionärer Umtriebe in operativen Berichts-Kladden verzeichnen. Biskupek stellt den realen Vorkommnis-sen nun die authentischen Protokolle der IM’s gegenüber. Und die intellektuell offenbar völlig überforderten Schnüffler ziehen höchst eigen-willige und an den Haaren herbeigezogene Schlüsse aus der Beobachtung ihrer "feindlich-subversiven" Objekte. Biskupeks nicht weniger amüsante und bissige Zukunftsvision vom Überleben des kleinen Theaters unterhalb der Schnauferlburg im fortgeschrittenen Event-Zeitalter mit Theater-Card, Karaoke-Bar und Drei-Klassen-Wahlrecht bricht einem dann fast das Herz. Eigene Erfahrungen ähnlicher Art lindern den Schmerz allmählich.
Barbara Tedeski

Matthias Biskupek: "Eine moralische Anstalt", mit Illustrationen von Ioan Cozacu, Eulenspiegel, 9,90 Euro