Die halbe Kunst


Die halbe Kunst
Versuch und Irrtum zum Essay

Ich habe meinen Herder, der mit den "Kritischen Wäldern" Grundlegendes zum Essay schrieb, natürlich nicht - nicht wirklich, ist die heute verbindliche Formulierung - gelesen. Ich habe ihn in eine elektronische Suchmaschine eingegeben und bin informiert worden: Das Waldsterben hat eine kritische Grenze erreicht und die Firma Herder setzt Arbeitskräfte frei.
Wir erfahren etwas ganz genau, das wir nicht brauchen können. Das ist die Eins, digitalisiert ausgedrückt. Die Null hingegen sagt uns, dass wir nichts wissen. Die Null, die andere Hälfte jeder digitalisierten Wahrheit, wirft uns auf alte griechische Lebenserfahrungen zurück: Es ist ein Scheiß, dass ich nichts weiß. Wenn die digitale Welt auf den Hund namens Eins gekommen ist, kann sie nicht mehr halbiert werden. Das analoge Wesen Mensch aber mogelt sich daran vorbei und singt als Liedermacher Wenzel, der gleich im ersten Text dieses Bandes auftaucht: "Der Mensch halb Stier, halb Affe, / Halb tierisch meine Lust. / Und alles, was ich schaffe, / Ist halb gewollt, gemußt."
Wenzel gehört für gesamtdeutsche Musikalienfreundeskreise und eine Handvoll ostdeutscher Intellektueller zu den lichtvollsten Geistesgestalten. Dem werden die Lufthoheiten im deutschen Feuilleton widersprechen: Wenzel wer? Wir kennen keine einst Halbwiderstand leistende Unrechtsstaatsdichter mehr, wir kennen nur noch Deutsches Bundesdenken!
Können Lufthoheiten aber meiner nächsten Feststellung widersprechen? Ich bin mir der allerwichtigste Mensch. Weltweit. Ein Schriftsteller, Essayist, Romancier, Radfahrer und Lyriker von allein meinem Rang, der nichtsdestotrotz von sich Besseres gewohnt ist. Als ich die Hälfte meines Lebens noch längst nicht erreicht zu haben glaubte - ich war als Nachwuchsdichter bei meinen eigenen Interessen angestellt -, fertigte ich diese, zu Zeilen gebrochene Erkenntnis: "Halbzeit-Krisis // Den Teller eß ich halbleer / Mein Wissen geb ich halb her / Ich brauche dich so halb sehr / Das Herz wird mir nur halbschwer / Gedichte schreib ich halbfer- / Tick".
Es ist jener Tick, der nicht nur das Gedicht, sondern auch den Essay ausmacht. Oder das Essay? Gelegentlich ist es nämlich kindisch. Ansonsten wissenschaftlich, jedoch keine Wissenschaft. Der Essay ist leichtfüßig, aber kein Bruder Leichtfuß. Er ist das Schwere, das einfach gemacht werden muß. Jeder versteht ihn, aber keiner will ihn begriffen haben. Denn die Voraussetzung des Essays ist die Unbefangenheit. Der letzte Satz stammt von jener Lufthoheit, die als Marcel Reich-Ranicki über allen kritischen Wäldern dahinsegelt, während die anderen Sätze beim Surfen aus meiner privaten, über der Nase montierten Festplatte herauspurzelten. Weshalb die Feststellung: Ich mach mir ne Platte, in Zeiten von Nullwissen und Einseraufsätzen zu neuem Glanze kömmt.
Herder war noch ein user der Sprachform kömmt. Sie merken, geneigter, also etwas schräg veranlagter Leser, wie mein ringförmiges Denken Kreise zieht? Für die dem Essay verwandte Form, das Feuilleton, lautet der vollständige Ausdruck ringförmiger Rückkehr: Auf einer Glatze (Platte!) Locken drehen. Wozu auch der fröhliche Verzicht auf Gründlichkeit gehört - was wieder des Großen Marcel just so formulierte Erkenntnis ist. Sie können die im übergreifenden Untertitel als Essays ausgepreisten Texte folglich getrost als Feuilletons bezeichnen, auch wenn sie eigentlich Eröffnungsreden, Grabreden, Lobgesänge und Verrisse sind. Sie wollen nie mehr als die knappe Hälfte sagen, weil das große Ganze langweilig wäre. Sie sollen keine Kunst sein, aber sie wollen es inbrünstig. Sie unterliegen ständig jenen Irrtümern, die das Flanieren in kritischen Wäldern zumindest zu einem kleinen Abenteuer machen: Finde ich wieder heraus aus diesem Gedankenweg, oder ist er eine Sackgasse?
"Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden", ist ein Aufsatz von Kleist überschrieben. Was aber tut der noch nicht zu Ende gedachte Gedanke in der Sackgasse? Er bleibt einfach stehen und sagt nicht: Kanjez Filma - nu pagadie!*, sondern: Das war ein Essay!

*Westdeutsche Patrioten finden Erklärung im Internet