Thüringens Grün

Von Irmtraud Gutschke (Neues Deutschland vom 5. 6. 2008)

Wonach bücken sich die Frauen da? Scharfgarbe? Rainfarn? Oder nach Mädesüß, dem "Grippekraut"? Als einer der wenigen Männer in dieser Gruppe hat Matthias Biskupek die "Kräuterwanderung" auf die Wiesen bei Oberweißbach mitgemacht – und sechs Euro dafür berappt, die "Kräuterfrau" kann schließlich nicht nur von Grünzeug leben. Aber das war nun wirklich nicht zu teuer für die Geschichte, die daraus entstand. "Sehn Se, das Blatt vom Gundermann sieht aus wiene Lunge. Und ist auch gut fürde Lunge." Bei Trübsinn rät die Frau, die Blüten des Gänseblümchens mit Milchzucker zu verreiben (weil Gänseblümchen immer wieder aufstehen, wenn sie zertrampelt werden). Ob die Zubereitung des Gänseblümchen-Auszugs möglicherweise genau so lange wie der Anfall von Trübsinn dauert, sinniert der respektlose Schriftsteller. "Mir fällt die überlieferte Geschichte vom schwäbischen Wunderheiler ein. Er verlangte von einem an Überdruß und Weltschmerz leidenden feinen Städter, daß er die weite Strecke zu ihm zu Fuß kommen müsse. Nur Kräutersüppchen sollte er unterwegs essen, früh eines und abends ein anderes. Nichts Fettes, Süßes, Gebrutzeltes. Und siehe, als der Leidende nach Wochen anlangt, ist seine Krankheit verflogen – der Wanderweg war das Gesundheitsziel."
Irgendwie mussten sich die Leute ja behelfen, bevor es die Pharmaindustrie gab. Die drei Thüringer Städte Oberweißbach, Großbreitenbach und Königsee streiten sich bis heute mitunter, welche die wichtigste Kräuterstadt sei. Denn alle drei sind mit dem Namen des Magisters Mylius verbunden, der in seiner Apotheke aus Pflanzen allerlei Balsame und Auszüge und aus Schwefelkies Schwefelblüte gewann. Gar vielen "Armeleutskerlen" gab er Arbeit, indem er sie als "Buckelapotheker" durch die Lande ziehen ließ. Im Buch ist sogar noch ein Gewerbe- schein für einen solchen aus dem Jahr 1935 abgebildet. Matthias Biskupek hat sich auf uralten "Olitätenwanderwegen" durch den Thüringer Wald bewegt, hat sich dabei für Liebestränke interessiert, wie sie in Meuselbach von der Firma Lichtenheldt hergestellt wurden, und für den Schwarzburger Heimatschriftsteller Otto Ludwig, für den Siegmundiner Kräuterlikör, der über all die DDR-Jahre "briwwaad" hergestellt wurde und für die Schriftstellerin Inge von Wangenheim, die für ihn eine "Hohepriesterin" der Thüringer Landschaft war. Und er erinnert sich, wie er dort groß geworden ist; den Unterschied zwischen Brennnesselsuppe einst und heute weiß er wohl zu beschreiben. Er besucht die Firma Hofmann & Sommer, die neben dem berühmten "Hingfong" zu DDR-Zeiten auch die "Kampfstoffnachweisfolie AP I" produzierte. Was ich auch nicht wusste: dass der Fabrikant Friedrich Adolph Richter auf dem Industriegelände des Ankerwerks (wo die berühmten Steinbaukästen gefertigt wurden) nicht nur auch "Spirituosa" herstellte, sondern außerdem ein Kurhotel errichtete. "Rudolsbad" – die Gäste sollten von der Pergola aus den Betrieb beobachten können. Im Ankerwerk wurde übrigens nicht nur Fenchel-Sirup hergestellt, sondern auch Valocordin – aus Valeriansäure-Ethylester und Phenobarbital. Mit dem Produzieren und Abfüllen kam man kaum nach, weil die Exportanforderungen aus der UdSSR so groß waren. Denn mit etwas Valocordin und einer Flasche Bier konnte man sich einen Rausch antrinken, als habe man eine ganze Flasche Wodka geleert.
Habe ich alles nicht gewusst, wenn ich durchs Busfenster die Richterschen Villa bestaunte – beim Theaterausflug aus meinem Internat nach Rudolstadt. Aber die "Freie Schulgemeinde" Wickersdorf ist abgebildet, als die Lehrerinnen noch lange Kleider trugen und die Schülerinnen und Schüler sich mit weißen Mützen zu erkennen gaben. "Freie Schulgemeinde", weil in Wickersdorf Anfang des 20. Jahrhunderts schon Lehrer und Schüler gleichberechtigt abstimmen durften. Und noch bis in DDR-Zeiten hinein ging es dort selbstbestimmter zu als anderswo. "Eure Schülervertretungen heute sind nichts anderes als eine zaghafte und ziemlich stümperhafte Fortsetzung dieses Versuchs", schreibt Biskupek.
Ich freue mich über seine Bestimmtheit ebenso wie über seinen Spott, überhaupt die amüsante Art, Angelesenes und Erlebtes zu verbinden. Will sagen, dass dieses Buch nicht nur etwas für Thüringer ist, aber für sie natürlich besonders, ebenso wie für Kräuterweiblein von heute. Denn "die weite Welt beginnt im Garten vor der Haustür", schreibt Biskupek. Da sollte ich jetzt an diesem Sonntag wirklich mal vom Computer weg nach draußen gehen.