Spalter (Frankfurter Rundschau)
Zeitzeuge


von Matthias Biskupek

Wenn ich jetzt ein Geheimnis verrate, muß ich zuvor etwas ausholen und von den Kellerinterviews reden. Na, Sie wissen doch: Kellerinterviews! Haben immer Konjunktur. Der Befragte sitzt dazu irgendwo in einem Verlies. Von oben fällt durch ein vergittertes? Fenster etwas Licht auf den meist älteren Herrn und darunter steht: Zeitzeuge. Derzeit spricht ein Zeitzeuge meist vom ersten Weltkrieg. Der tobte bekanntermaßen vor 90 Jahren, drum sind Zeitzeugen 95 plus gefragt. Einfacher wird es 2005 zum 60. Jahrestag des zweiten großen Kriegsendes. Da sind dann Normalrentner berechtigt zum Zeitzeugen, die allerdings ostpreußisch sprechen sollten. Für die Authentizität ganz wichtig! Der Geschichtslehrer der Zweiten Deutschen Fernseh-Nation, Prof. Knopp, würde auch gern das einstige Oberkommando der Wehrmacht befragen, doch das hat sich den Kellerinterviews in den letzten Jahrzehnten durch konsequentes Ableben entzogen. Drum sagen jetzt andere alles! Die Köchin, der Friseur, der Hundeführer und vielleicht auch "der Bub" des Oberkommandos. Einfacher wird es in fünf Jahren, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Dafür habe ich mich bereits gerüstet. Ich sage nur: My Generation! We are the Mauerspechts! We war the Volk! Der Bart wächst mir bereits eindrucksvoll. (siehe Bild). Notfalls wird er noch etwas eisgrauer gefärbt, oder ich lasse mir die authentische Rathenow-Tönung verpassen. Ein Deutscher Demokratischer Revolutionär trägt Bart, spricht sächsisch und war Pfarrer. An meiner Pfarrerbiographie arbeite ich noch ganz geheim.
   Wenn ich dann wieder ein paar Jahre später zum fünfzigsten Geburtstag des Sturms auf die Stasi-Zentrale in der Bastille am 14. Juli rede, wird meine Opferbiographie voll ausgereift sein. Das Licht auf mein Haupthaar wird mir beim Kellerinterview etwas vom Apostel Thierse geben. Wolfgang, der Erleuchtete, der auf der Kippe steht und Gerechtigkeit anmahnt. Denn die Nation braucht keine Abmahnungen, sondern eine Anmahnung.
   Ich übe bereits, wie man als Insasse der Sonoren-Residenz spricht. Tief und mit Verantwortungsgefühl. Vielleicht stelle ich dann sogar Gen. Thierse höchsteigen dar, denn - jetzt verrate ich das Geheimnis: Ich bin bereits freier Mitarbeiter. Als Zeitzeuge. Bei der Guido-Kellerinterview-GmbH. Meine Ich-AG, die ich zu diesem Zwecke gründete und die mich vor "Hartz VI" schützt und mich auch vor den nachfolgenden Reformen "Ertzgebürge V" und "Alppen VI" retten wird, floriert. Natürlich mußte ich zunächst ostpreußisch lernen: Immär bräjt, Marjellchen! Ich schaffe es auch, bei guter, also schlechter Beleuchtung, als KohlrübenWinter-Maid durchzugehen. (1917 war ich bekanntlich erst 12 Jahre.) Etwas schwieriger gestaltete sich die Rolle als Sowjetgeneral, aber wozu hat unsereins sieben Jahre "Da sdrawsdwujet germano-sowjetskaja Drushba" gelernt. Zumal mein Russisch immer ganz schnell ausgeblendet und deutsch darüber gesprochen wird. Im Augenblick lerne ich elsässisch. Denn in etwa 25 Jahren kommt ein ganz wichtiges Jubiläum: Schlacht bei Sedan! Ich trete dann als Landser auf, zwischen den Fronten. Elsässische Herkunft, französischer Staatsbürger, von Bismarck annektiert. Ganz schwierige Rolle! Wenn Sie mich demnächst im Kellerinterview sehen, achten Sie mal auf mich. Ich blinzle Ihnen dann kurz zu.