Die Buchkolumne aus dem Eulenspiegel Heft 9-2007
Anna Amalia bis Zucker


von Matthias Biskupek

"Manche Bücher gelangen erst ab 3. Auflage ins öffentliche Bewusstsein - Ettore Ghibellino machte bereits mit seiner ersten Auflage 2003 in Weimar Wirbel, wagte er sich doch an ein Axiom deutscher Literaturwissenschaft: die Liebe Goethes zu Frau v. Stein. In Wirklichkeit, so E.G., hätten sich Herzoginmutter Anna Amalia und Goethe geliebt - Frau v. Stein sei nur Briefkasten gewesen. Eine verbotene Liebe? (denkena-verlag) erschien nun in 3. Auflage, mit neuem Vorwort, das besagt, die These sei bisher nicht widerlegt worden. Vielleicht liest E.G. nicht, was über sein Buch geschrieben wurde? Immerhin nahmen ihn einige Wissenschaftler richtig ernst, denn flotte Thesen sind immer gut, ein verstaubtes Thema aufzumotzen. Die E.G.-Methode ist übrigens nachahmenswert - die wirkliche Adressatin stellt er immer in Gänsefüßchen als "Frau von Stein" - und gelegentlich bastelt er einfach Klammern in die Briefe (Anna Amalia). Bilder der beiden nach E.G.-Willen Verliebten stellt er gleichgroß nebeneinander - nur sind die Porträts aus verschiedenen Jahren, von verschiedenen Malern, von sehr verschiedener Größe. Am besten aber der Vexierbild-Beweis. In Goethe-Zeichnungen malt E.G. zart angedeutet ein A. Vielleicht liebte Goethe die Türkin Aische? Das wäre doch ein ganz neuer Blick auf den westöstlichen Diwan ...

Vor einem guten Jahr erschien in den USA "Moralischer Bankrott - Der amerikanische Offenbarungseid" des Journalisten Wayne Madsen. Was der investigativ herausgefunden hat, ist so neu nicht, aber immer mit Namen und Geheimdienstnummer belegt: In den Regierungen der Welt wird mit Haken und Ösen, also mit Bestechungen und Verleumdungen gearbeitet. Es gibt gelegentlich sogar Unregelmäßigkeiten wie Mord und Totschlag, Folter und Lagerhaft ohne Gerichtsurteil. Sollte dies bei der Bush-Administration anders sein? Das Jahr seit Buch-Erscheinen erfüllte fast alle Voraussagen, denn "Die Firmen unserer Zeit agieren ungestraft und ohne Rücksicht auf internationale Grenzen und Gebräuche." Der Erkenntniswert eines solchen Satzes ist überschaubar. Was wir immerhin investigativ herausgefunden haben: Das Buch hat neben einer Übersetzerin (Gudrun Hinze) auch einen Herausgeber: Hans-Werner Kummerow. Und einen Verlag. Der heißt HWK Verlag.

Gibt es noch Abenteuer? Roland Garve mit seinem Schreib-Helfer Frank Nordhausen spricht sehr lebendig über 500 Seiten lang davon: Kirahe - der weiße Fremde (Ch. Links Verlag). Garves Jugendschicksal allein ist schon erzählenswert: Abenteuerlust seit Kinderzeiten, nach Zahnmedizinstudium im DDR-Knast wegen Vorbereitung zur Republikflucht. Begegnungen mit Mördern, Ausreisewilligen und Nazis aller Art. Herauskauf durch die ehem. BRD. Die Sehnsucht nach fremden Ländern stillt Garve später ausgiebig - und kann heute von archaischen Kulturen in aller Welt erzählen und nebenbei seine immer mal wieder zerbrechenden Ehen und Beziehungen auflisten. Die Wilden, die nicht wild, sondern nur von anderer Kultur sind, werden auch in Wut- und Mordlustanfällen geschildert, es gibt Schlangenbisse und Bürokratie - und natürlich endet diese Lebensgeschichte in schöner Harmonie, mit neuer Frau, neuem Kind und neuen Plänen.

Von sehr anderer Art sind die Leben, von denen ein sehr anderes Buch berichtet: Vorsicht, Strandgut, von www.mobb-jena.de herausgegeben. Fünf Arbeitslose und ein paar ihrer Kollegen benutzen die Literatur, um ihrer Arbeitslosenwelt etwas entgegenzusetzen. Eine der Autorinnen heißt Monika Maron, ist aber wahrscheinlich nicht Monika Maron. Früher waren all das "Schreibende Arbeiter", die von der Schönheit des Sozialismus und der Verderbnis des Kapitalismus berichten sollten. Der Sozialismus hat sich mittlerweile erledigt, die andere Seite der Schreib-Aufgabe ist geblieben. Übrigens bedeutet die Internet-Adresse nichts Schlimmes, sondern "Menschen ohne bezahlte Beschäftigung".

Literarische Kalender enthalten meist Dichternamen und Geburtsdaten. Der Taschenkalender von Fischer Taschenbuch enthält sich all dessen, teilt nur Weihnachten und die Schulferien von Hamburg bis Wien mit. Dafür findet man alle paar Datumsseiten ein Geschichtchen oder Gedichterl. Von Ilse Aichinger bis Jorge Luis Borges sehen wir, dass alle wichtige Literatur bei Fischer Taschenbuch erschienen ist. Mit Ausnahme von E.G., Madsen, Garve, Nordhausen, mobb-jena.de und den arabischen Wörtern im Deutschen. Die hat nämlich Von Algebra bis Zucker bei Reclam Andreas Unger aufgelistet. Mit Schrecken müssen wir feststellen, dass der urdeutsche Alkoven, der schon fast auf die Liste gefährdeter Wörter gehört, aus dem Arabischen via Prophet Mohammed eingeschleppt wurde. Von der Algebra, dem Algorithmus und der Ziffer haben wir das ja vermutet, weshalb die Mathematik den meisten Nazionaldenkern ein Buch mit sieben Siegeln ist. Das urdeutsche Matt im Schach, die altdeutsche Joppe, das süße deutsche Lübecker Marzipan, unsere Ossi-Truppe Karat, die wieder Karat heißen darf - levantinisches Importgut. Tasse, Spinat, Sofa und Matratze - laut Herrn Unger, der bestimmt in Wirklichkeit Ali oder Hassan mit Vornamen heißt - alles ohne Reisepass zu uns gekommen. Die nächst Bier deutscheste Flüssigkeit, das Benzin - ein Asylantenwort. Zum Glück rücken Haschisch, Kiffen, Alkohol und Hasard unser germanistisches Weltbild wieder gerade: Wörter solchen Kalibers (pers.) können ja nur aus dem Arsenal (arab.) der Scheichs und Beduinen, der Emire, Fakire und Kaffern (siehe Islam) kommen.