Die Buchkolumne aus dem Eulenspiegel Heft 6-2007
Rummelplatz und Letzte Worte


von Matthias Biskupek

Dem Schriftsteller flichtt die Nachwelt manchmal Kränze. Der Aufbau Verlag hat ein nachgelassenes Romanfragment mit Textvarianten, Anmerkungen und einem erhellenden Nachwort der Herausgeberin Angela Drescher zum 770-Seiten-Kranz gewunden. Rummelplatz von Werner Bräunig erregte als schmaler Literaturzeitschriftenabdruck vor vierzig Jahren die mächtigen Funktionäre, und so beschlossen diese, das unfertige Buch zum Schandpfahl zu machen. Zwecks Abschreckung der Schriftsteller. So kam ein Halbfertigprodukt zur Ehre des bösen Vorbildes - und wurde natürlich nicht gedruckt. Heute wirbt der Verlag mit Umschlagtext "Eine literarische Sensation - Der berühmteste ungedruckte Roman der Nachkriegszeit" - und weckt damit Erwartungen, die der Text nicht erfüllen kann: eine breit, gelegentlich auch verworren erzählte Geschichte von jungen Leuten, die sich im Nachkriegsdeutschland finden wollen - mit einigen sehr dichten, packenden Schilderungen vom Uranbergbau und von Sauforgien. Bräunig, vor dreißig Jahren gestorben, hätte mit seinem Buch nicht unter und nicht über bleibenden Büchern dieser Zeit rangiert: Wolfs Geteilter Himmel und Christa T., de Bruyns Buridans Esel, Kants Aula, Strittmatters Ole Bienkopp, Reimanns Geschwister oder Neutschs Spur der Steine. Wie ideologisch vernagelt die Akteure damals waren, wird ab Seite 625 deutlich - da ist der Roman zu Ende und die Erklärungen beginnen. Und wie unwissend die meisten heutigen DDR-Literatureinordner auf ihren gutdotierten Amtsstellen urteilen, wird überdeutlich: Man kann diese erstaunliche Zeit mit ihrer erstaunlichen Literatur nämlich nicht in die Fußnote "Sozialistischer Realismus" zwängen.

Eberhard Esche macht mit seinen "Letzten Worten", die Theaterkollegen galten, ebenfalls klar: Es gab eine der Theaterkunst überaus günstige Zeit und Gegend. Mitten in Deutschland. Mitten in Berlin. Mitten in den sechziger, siebziger Jahren. Ein Stolz, der groß ist (Eulenspiegel Verlag) heißt der Band eines immerwährenden Plädoyers für den Schauspieler, in dem der nun ebenfalls gestorbene Esche zu resümieren und zu räsonieren wusste: "Es ist unser Pech, dass die Verhältnisse in eine Bahn einschwenkten, wo wir nur tatterig davon schwärmen können, wie wir einmal gut waren, also lärmend wie altes Eisen auf der Schrotthalde in unschuldigen Nächten ..."

Wer Richard Fasten heißt, sollte nicht unbedingt ein Buch zum Essen schreiben. Das letzte Gericht (be.bra) ist eine Auflistung dessen, was Prominente zum Schluss verspeist haben. Prinzessin Diana und Rudolf Mooshammer stehen werbend auf dem Umschlag, obwohl auch Hannibal, Kleist, Moliere und Robert Schumann vom Autor behandelt werden, auf jeweils zwei Seiten. Danach folgt ausführlich das Rezept der letzten Prominentenspeisung. Das ist manchmal witzig, hat aber insgesamt genau jenen dünnflüssigen Illustriertenstil zur Folge, der sich von Bunte bis www.Schnellinfo.com breitmacht: Nichts mehr muss gründlich sein, aber alles chic und locker, lecker und amüsant.

"Versuch über den Kalauer" heißt einer der letzten Texte von Robert Gernhardt. Er steht jetzt als Nachwort im soeben erschienenen Band Bilden Sie mal einen Satz mit … Ein Dichterwettstreit (Fischer Taschenbuch). Mitherausgeber Klaus Cäsar Zehrer wird die großangelegte Sammlung komischer Gedichte "Hell und Schnell" künftig wohl allein verantworten müssen. Seinem Aufruf vom Dezember 2005 folgten erstaunlich viele Kalauerfreunde - einer der fleißigsten, eine ganze orientalische Kultur in vier Zeilen fassende, der hessisch beherrschende Kölner Michael Schönen, sei zitiert: "Moschee, Allah, Mekka, Achmed, Islam: Die Arbeit fängt der Muselmann / Moschee in Allah Ruhe an. / Ich Mekka darum Achmed ihm bisweilen, / doch er Islam und will sich nicht beeilen." Solche Texte resultieren laut Gernhardt aus dem "Drang, es dem Ordnungssystem Sprache einmal ordentlich heimzuzahlen". Die vielen Dutzend Reimarbeiter (Dutzendreim-Arbeiter?) dieses Buches zeugen vom Sprachwaschzwang einer ganzen Nation: Im deutschen Menschen wohnt ein Geist und der will spülen. Doch wer mag rechten, wer zuerst den linkischsten Spruch fand? Hier wird Günter Nehm so zitiert: "Indiana: Charles fand es Indiana nicht so schön, / drum wollt er lieber mit Camilla gehen." Schon vor vielen Jahren ließ ein gewisser Nel, Zeichner mit, wie es korrekt heißt, rumänischem Hintergrund, eine Berliner Rothaut sagen: "Am liebsten spiel ick in Diana". Auf jeden Fall sollte das Buch laut gelesen werden, dann Syntax darauf die Erinnerungen noch im Ohr.

Liest sich ein Text noch Jahre und Jahrzehnte nach dem erstmaligen Auftauchen in der Menge der Bücher so, als beträfe er die Welt von heute, ist dem Autor ein Wurf gelungen. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers von Alan Sillitoe war ein solcher Wurf - und bei Diogenes hat man sich nicht gescheut, die Übersetzung von 1967 für die Neuauflage etwas zu überarbeiten. Doch noch immer wird die Polizei darinnen zumeist Polente und nur gelegentlich Bullen genannt; die ganzen Bullen, wie es sprachlich unkorrekt aber sozial genau heißt, sind ohnehin so glotzäugig und glucksbauchig, wie der Erzähler es in seiner blöden Läuferbirne nur denken mag. Wer aber den Sinn dieses und anderer Bücher nicht versteht, für den gibt es bei Reclam etwas Wunderbares. Lektüreschlüssel. Die "machen Schluss mit der mühsamen Suche nach Informationen zu literarischen Werken." Sie machen überhaupt Schluss mit dem altmodischen Selberlesen. Hermann Hesses Steppenwolf zum Beispiel wird von Georg Patzer (!) so fehlerfrei erklärt, dass jeder Schüler auf jede Frage eine Antwort findet. "Wie beschreibt der Herausgeber Harry Haller?" "Zwiespältiger Eindruck" lautet der passende Fett-Druck. Sollte es dem Schüler jetzt noch gelingen, aus der Zweiwortantwort einen ganzen Satz zu formulieren, wird er Sieger auf der Zielkurve in jedem Leistungskurs.