Der gesammelte Autor

Der gesammelte Autor

Im allgemeinen ist der deutsche Schriftsteller zerstreut. Er versucht, den Stift mutig in die Wunden der Welt zu legen, hackt seine Wut in die Tastatur und wird bei einer guten Sache als Unterschriftsteller benötigt. Seine Texte verbreitet er über den Erdball. Manchmal werden sie in der Nachbarstadt ungekürzt veröffentlicht. Erich Kästner sprach von einer kleinen Textfabrik, die er, um sich nähren zu können, unablässig betreibe.
Bisweilen aber denkt ein deutscher Autor ganz konzentriert ans Leben. Er denkt daran, daß so viele Menschen ihr Leben in kräftigen Farben zeichneten, ungeschminkt und hinter den Kulissen, nichts als Wahrheit im Lichte der ewig gehaltenen Lampe. Der Fußballer meißelt Sätze wie „Der Ball wird immer länger“, der Sänger bekennt „Ich kam nicht mehr hoch“ und die öffentliche Schönheit faßt ihren privaten Tiefpunkt so zusammen: „Meine innere Batterie wollte endlich wieder gestreichelt werden.“
Das ist der Zeitpunkt, wo der Autor an Sammlung denkt: Du hast doch damals diese ganz hübsche Geschichte geschrieben, die sogar 1 Kritiker bemerkte. Stehen nicht in einem frühen Buche Sätze, die erst jetzt ihre Treffsicherheit entfalten? Und über welche Deiner Sachen haben alle selten so jelacht? Gab es nicht jenes poetische Prosakunststück, das Du für ein liebes Menschenwesen persönlich erdachtest, aber dieses Menschenwesen ist längst nicht mehr persönlich und schon gar nicht mehr lieb?
Der Autor sammelt sich also, ganz ausgewählt. Liest sich selber mal wieder – einer der erschütterndsten Momente in einem jeden Schriftstellerleben. Schüttelt folglich sich und den Kopf: Wie soll man das heute verstehen? Was man damals, unter der Knute des Unrechtssystems, am Rande des Abgründigen, versteckt in Winkelzeitschriften, zerschnipselt von der Zensur, übertüncht von der gelben Farbe der Feigheit so alles hat drucken lassen? Müßten nicht Fußnoten* um Fußnoten das Ganze erst zum Laufen bringen? Hat nicht Kollege Heine, Heinrich (Dr. jur.) sich für seine bei der Augsburger Allgemeinen beschädigten Berichte grausam in VorWorten gerächt? Fragen eines sich selbst lesenden Schreibarbeiters. Der Autor beschließt dann, weil deutsch und mithin der Aktenkunde zugetan, für manche Texte eine Jahreszahl ganz klein zu vermerken. Damit man sieht, daß er in früheren Zeiten, als es wenig Demokratie und keinerlei Herausforderungen des neuen Jahrtausends gab, anders dachte, als heute, also ein Andersdenkender war, der sich bis heute treu blieb. Sollte man aber aus den fehlenden Jahreszahlen der übrigen Texte schließen, daß es überhaupt kein Jahr war, als er diese schrieb? Und wie erkennt man, was ihm heute auf den Nägeln brennt, welche Texte also nagelbrandneu und bislang ungedruckt sind? Aber wer will das wissen?
Wer will überhaupt etwas von dem Autor wissen und lesen und am Ende noch kaufen? Wo doch alle inklusive Autor sparen, um den Aufschwung zu packen ...
Der Autor sammelt sich und beginnt wieder, Texte in die Gegend hinaus zu streuen. Seine Schreibkrise, so sollte die Öffentlichkeit wissen – die es natürlich nicht wissen will - ist hiermit beendet. Er wird die Begleitumstände später veröffentlichen. Unter dem Titel: „Als auch meine innere Batterie gestreichelt werden mußte“.

* Der Autor mußte 39 Jahre seines Lebens in der DDR zubringen.