Anno: 15 Gänge zur Literatur

Weimar, anno 2007. Mit einem opulenten 15-Gänge-Menü hat ein Weimarer Wirt gestern den Beweis erbracht, dass Literatur in Deutschlands Literatur-Hauptstadt noch keine brotlose Kunst geworden ist. Sebastian Loy bewirtete einen Abend lang 15 Thüringer Autoren und erwartet nun 15 Geschichten.
WEIMAR. Die Kulturstadt, "Anno 1900". Das ist in diesem Fall keine Zeit-, sondern eine Ortsangabe. "Wo bekommen wir hier ein gutes Abendessen, vielleicht einen leckeren Italiener", fragen die beiden Damen mittleren Alters und geben sich damit als Touristinnen zu erkennen. Sie stehen vor dem Gasthaus mit der Jahreszahl im Namen an der oberen Geleitstraße und scheinen verzweifelt. Denn das "Anno 1900" hatte sich für einen Abend aus dem Wettbewerb um den Weimar-Gast verabschiedet. Und von den acht anderen Gasthäusern in dieser Straße ahnen die Damen nichts.
Im "Anno" ist derweil von Verzweiflung nichts zu spüren. Im Gegenteil. Inhaber Sebastian Loy hat eine lange Tafel gestellt, an der sich munter schwatzend 15 Frauen und Männer niedergelassen haben, denen es an nichts zu fehlen scheint. Es sind 15 Thüringer Autoren bei einem Auftragswerk. Der Wirt würde natürlich sagen, bei einem Abend des Genießens. Doch der Genuss gehört in diesem Fall zu Werk und Salär. Denn die Literaten schreiben an einer Anthologie, die einmal ein literarischer Spaziergang durch die Speisekarte des Hauses werden soll. Jeder der Autoren ist für einen Gang zuständig. An die Geschichte oder das Gedicht gibt es nur zwei Anforderungen: Der Gang des Menüs soll darin vorkommen und das Werk in einer Tischgesellschaft angelegt sein. So wie sie das "Anno 1900" gestern erlebte.
"Ihren" Gang hatten die Literaten übrigens schon vor dem Menü ausgesucht: Wolfgang Haak etwa die Kürbis-Ingwer-Ravioli in Salbeibutter, Lutz Rathenow den gedünsteten Zander im Wurzelgemüse-Sud oder Christian Rosenau die sautierte Gänseleber an Safran-Polenta. Gisela Kraft hielt es mit der Wildschweinpastete an Tempranillo-Sauce, Daniela Danz mit gebratenem Rinderfilet auf Mangosalat mit rosa Beeren, Matthias Biskupek darf sich von Spargel-Orangen-Variationen inspirieren lassen.
Während die beiden Touristinnen weiter nach dem "leckeren Italiener" suchten, hatten die Autoren gerade die Halbzeit des Menüs erreicht. Von Erschöpfung keine Spur, obwohl sie seit 17 Uhr am Genießen waren. Gegen Mitternacht wurde der 15. Gang erwartet und Applaus für Anno-Küchenchef Jens Schmidt. Die kulinarische Anno-Anthologie soll dann im Frühjahr kommenden Jahres erscheinen.
Wer im Weltweitnetz nach einem solchen Menü sucht, der findet die klassische Struktur bei Konni Scheller, seines Zeichens Küchenmeister vom "Roten Ochs" in Franken: "1. Kalte Vorspeise, 2. Suppe, 3. Warme Vorspeise, 4. Fischgang . . . 14. Dessert", steht da zu lesen und die Frage an einen wissensdurstigen Azubi: "Aber sagen Sie mir mal, wer das heutzutage noch essen will . . .? " Die Antwort haben die Thüringer Autoren gestern gegeben.

M. BAAR, 02.07.2007