Mein Aktienpaket arbeitet

Das Spielen und das Lesen
Ein Vorwort für Materialien zur Lesekompetenzk

Das war gemein! Mein Vater hielt sich die Zeitung ewig lange vor die Nase, eine Zei-tung, die ganz oben verschnörkelte schwarze große Zeichen hatte. Darunter gab es endlose Zeilen, selten von ein paar sehr grauen Bildern unterbrochen. Was steht denn drin? wollte ich ungeduldig wissen. Nichts, was dich interessiert, beschied mein Vater. Du wirst schon noch früh genug lesen lernen.
Das war sehr gemein! Genau wie die Antwort meiner Mutter, wenn ich fragte, ob die Babys zum Bauchknopf herauskommen: Das wirst Du später erfahren, wenn Du groß bist.
Erwachsene, und besonders Eltern, waren in der Tat gemein. Alles sollte man erst später erfahren, wenn man lesen konnte. Doch würde es mir dann noch etwas nützen? Ich wollte jetzt und gerade jetzt wissen, was in der Zeitung stand und wozu der Bauchknopf überhaupt da war. Die Leserin und der Leser von heute werden befremdet bemerken: Es muss eine finstere Zeit gewesen sein, als man Heranwachsenden umfassende Kenntnisse über Schwangerschafts- und Still-Vorbereitungskurse einfach verweigerte. Es war auch eine Zeit, als man einfach „Leser“ sagte, und damit LeserInnen meinte.
Unsereins wurde damals auch mit anderen Fragen allein gelassen. Drängelte man: Was gibts’n morgen zu essen? wurde man beschieden: „Neugierde, in Butter gebraten!“
War es ein Wunder, dass ich meinem älteren Bruder begeistert als Sparrings-partner diente? Der machte am Nachmittag seine Hausaufgaben und brauchte dazu einen, vor dem er prahlen konnte: Wir haben heute das Q gelernt! Eine Kuh? fragte ich und mein Bruder befand, dass ich ein blöder Esel sei. Wer will das auf sich sitzen lassen? Wenn er „Esel“ schon längst buchstabie-ren konnte? Ich lernte nämlich während der brüderlichen Hausaufgaben das Lesen nebenbei. Zu Beginn war es noch so, dass ich genau wusste, auf welcher Seite von „Das hässliche Entlein“ welche Sätze standen. Die Bilder waren Merk-Hilfe, doch irgendwann flutschte es. Ich konnte sogar die Zeitung lesen und stellte fest, dass sie sehr langweilig war. In der Schule fügte ich mich später willig ins Kollektiv ein, denn „Kollektiv“ war damals wichtig. Ich las stockend, mit dem Zeigefinger unter der Zeile, buchstabierte brav mit. Doch meine Lehrerin ließ sich von dieser Kollektivfreundlichkeit nicht täu-schen: Du liest doch schon fließend, befand sie. Fortan musste ich schwierige Texte für alle laut vorlesen. Und als wir später Heimatkunde und Biologie, Physik und sogar ein Fach namens „Staatsbürgerkunde“ bekamen, war klar: Ich konnte gut lesen, musste also auch in diesen Fächern gut sein. Was macht der Mensch nicht alles, wenn es verlangt wird? Lediglich in Sport galt meine Lesefähigkeit nichts; da blieb mir der Platz des Ballholers, bestenfalls des letzten linken Verteidigers.

Zum Schluss eines jeden Textes sollte eine Zusammenfassung stehen. Hier ist sie: Wer gut lesen kann, hat sicherlich manche Vorteile. Ob er dadurch glücklich wird, steht auf einem anderen Blatt: geschrieben, gedruckt oder in unsichtbarer Tinte. Denn im wahren Leben ist es oft besser, man ist gut in Sport und Spiel. Am besten aber, man versteht sich auf spielerisches Lesen und gelassenes Leben.

Matthias Biskupek, Schriftsteller, August 2009